Ich im Du, Du im Ich: Das Prinzip der Co-Regulation

Wenn du meinen Blogbeitrag zur Polyvagaltheorie bereits gelesen hast, dann weißt du, dass unser Sicherheitsempfinden in unserem ventralen Vagusnerv verankert ist. Eine gute Regulationsfähigkeit bedarf daher einem ausdifferenzierten ventralen Vagus. Auch wenn dieser Ast des Vagusnervs bei unserer Geburt bereits angelegt ist, muss er sich im Laufe unseres Lebens erst entwickeln und kräftigen. Ein Baby/Kleinkind kann sich noch nicht selbst regulieren und „leiht“ sich daher das Nervensystem seiner engsten Bezugspersonen aus. Man spricht in diesem Fall von Co-Regulation.

Co-Regulation im Kleinkind-Alter

Wenn ein Kleinkind z.B. stürzt, dann verbindet es sich mit dem Nervensystem der Mutter (oder einer anderen Bezugsperson), um einschätzen zu können, ob es sich in Gefahr befindet oder nicht. Wenn die Mutter panisch reagiert, dann sorgt dies auch im Nervensystem des Kindes für eine sympathische Aktivierung und es beginnt beispielsweise zu weinen. Wenn die Mutter authentisch gelassen bleibt (die eigenen Emotionen also nicht nur künstlich versucht zu überspielen), dann macht sich auch das Nervensystem des Kindes keine Sorgen und es kann einfach weiterspielen.

Ein Kind leiht sich so lange das Nervensystem seiner Bezugspersonen aus, bis sich gewisse Muster in seinem eigenen Nervensystem einprägen. Diese Muster bilden dann die Basis für seine Selbstregulation und der Fähigkeit autonom zu beurteilen, ob es sich gerade in Gefahr oder in Sicherheit befindet. Wächst ein Kind in einem Umfeld auf, in welchem Stress, Angst und Frustration an der Tagesordnung stehen, dann wird dieser Grundzustand auch im Nervensystem des Kindes verankert und kann dazu führen, dass sich sein ventraler Vagusnerv nicht richtig ausprägt bzw. das Kind auch im späteren Leben wenig innere Sicherheit empfindet.

Co-Regulation im Erwachsenenleben

Auch wenn die Fähigkeit zur Co-Regulation im Kleinkind-Alter noch wesentlich wichtiger für unsere Entwicklung ist, können wir uns auch als Erwachsene noch ans Nervensystem unseres Gegenübers andocken. Dies geschieht vor allem bei Menschen, die uns naturgemäß nahestehen, wie z.B. Familienmitglieder, Partner oder enge Freunde. Vielleicht kennst du auch diese oder ähnliche Situationen: du sitzt ganz entspannt in deinem Lieblingscafé und wartest auf deine Freundin. Als sie dann zur Tür hereinkommt, spürst du sofort, dass etwas nicht in Ordnung ist – auch ohne, dass ihr ein Wort miteinander gewechselt habt. Das ist das Prinzip der Co-Regulation. Andersherum funktioniert es natürlich auch: du kommst gestresst von deinem Arbeitstag heim, dein Partner ist im Gegensatz zu dir total entspannt und du hast mit der Zeit das Gefühl, dass du auch wieder ruhiger wirst. Oder: du übergibst deiner Mutter ihr Geburtstagsgeschenk und sie betont immer wieder mit ihren Worten, wie großartig sie es findet. Du merkst aber, dass dem vielleicht doch nicht so ist und sie dir zuliebe nur so tut als ob. Auch das ist Co-Regulation. Unser Nervensystem nimmt bewusst oder unbewusst immer den jeweiligen Nervensystemzustand unseres Gegenübers wahr, wenn unsere Nervensystem-Antennen fein genug eingestimmt sind, können wir Diskrepanzen zwischen dem, was gesagt wird und dem, was unser Nervensystem wahrnimmt, sofort erkennen.

Durch die Brille unserer Nervensystemzustände

Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass wir die Welt immer mit der Brille des jeweiligen Nervensystemzustandes betrachten, in dem wir uns gerade befinden. Nehmen wir z.B. die Situation mit dem Café und der Freundin: Stell dir vor deine Freundin setzt sich zu dir an den Tisch mit den Worten: „Sorry, der Tag war heute so stressig. Jetzt musste ich mich echt beeilen, dass ich noch rechtzeitig bin.“.

Wenn unser ventraler Vagusnerv (also unser soziales Kontaktsystem) vorwiegend aktiviert ist, werden wir uns vielleicht denken, dass unsere Freundin zwar einen schlechten Tag hatte, wir ihr aber wichtig genug sind, dass sie es dennoch pünktlich zu unserem Treffen schaffen wollte.

Wenn wir uns in einer sympathischen Aktivierung befinden, nehmen wir die Aussage vielleicht als Angriff wahr. Wir denken, dass sie uns Vorwürfe macht, dass sie sich jetzt extra noch wegen uns beeilen hat müssen. Je nachdem, ob wir in den Fight-, Flight– oder Freeze-Modus verfallen, wird unsere Reaktion anders aussehen. Im Fight-Modus könnten wir einen „Gegenangriff“ mit den Worten „Du hättest ja nicht kommen brauchen, wenn du keine Lust hast.“ starten.  

Durch die Brille des dorsalen Zustandes kann in uns der Gedanke aufkommen, dass wir sowieso niemandem wichtig sind.

Auch traumatische Erlebnisse beeinflussen unseren Nervensystemzustand und damit natürlich auch unsere Sichtweise auf die Welt und unsere zwischenmenschlichen Beziehungen. Dazu findest du einen eigenen Blogbeitrag.

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Deine Viktoria

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