Zwischen Regulation und Dysregulation: Wie dein Nervensystem dein Leben lenkt

Unser autonomes Nervensystem ist ein hochkomplexes System, das im Grunde darauf ausgerichtet ist, flexibel auf innere und äußere Reize zu reagieren. Im Idealfall reguliert es sich dabei von Moment zu Moment selbst. Das bedeutet, dass es sich an Herausforderungen anpasst und sympathisch aktiv wird, wenn Energie gebraucht wird – und zur Ruhe kommt, wenn Entspannung möglich ist (ventraler Ast des Parasympathikus). Die Basis für diese gesunde Selbstregulation ist ein gut ausgeprägter ventraler Vagusnerv, der für Sicherheit, soziale Verbindung und innere Ruhe steht.

Schon als Säuglinge lernen wir diese Fähigkeit zur Regulation nicht allein, sondern durch Co-Regulation mit unseren engsten Bezugspersonen. Wenn wir schon früh in unserem Leben die Erfahrung einer sicheren Bindung machen, entwickelt sich unser Nervensystem so, dass es nach und nach die Fähigkeit ausbildet, sich eigenständig zu regulieren – zwischen Anspannung und Entspannung, Aktivierung und Erholung. Um diesen Prozess sinnbildlich darzustellen, könnte man sagen, dass unser autonomes Nervensystem eine Art Thermostat ist und sich in uns eine „innere Temperatur“ einstellt, die sich bestenfalls gut anfühlt und flexibel veränderbar ist. Diese innere Temperatur gilt als Basislinie, die im Falle eines regulierten Nervensystems gesund für uns ist und auf die es sich selbstständig immer wieder zurückreguliert.

Im Falle eines dysreguliertem Nervensystems verschiebt sich unsere innere Basislinie. Statt in einem gesunden Wechsel zwischen Aktivierung (Sympathikus) und Entspannung (ventralen Vagus) zu pendeln, bleibt das Nervensystem dauerhaft in einem Zustand der Übererregung (Sympathikus) oder Erstarrung (dorsaler Vagus) stecken. Diese Verschiebung der Basislinie ist meist das Ergebnis langfristiger Dysregulation. Denn das Nervensystem passt sich immer an jenen Zustand an, in dem es sich am häufigsten befindet – im Falle einer verschobenen Basislinie zum Beispiel Dauerstress, Anspannung oder emotionale Unsicherheit.

Es ist wichtig zu erwähnen, dass die Fähigkeit zur Selbstregulation unseres Nervensystems grundsätzlich immer bestehen bleibt – sie ist nur auf eine für uns nicht gerade vorteilhafte Weise „umprogrammiert“. So wie ein falsch eingestelltes Thermostat die Wohnung überhitzen kann, reguliert sich das Nervensystem immer wieder in einen Zustand zurück, der eigentlich zu viel ist: zu viel Stress, zu viel Reiz, zu wenig Sicherheit. Unsere innere Temperatur befindet sich dann nicht mehr in Balance, wir führen ein Leben in Daueralarmbereitschaft.

Ein dysreguliertes Nervensystem können wir unter anderem daran erkennen, dass die Übergänge zwischen den jeweiligen Nervensystemzuständen nicht mehr fließend sind. Statt sich langsam aus der Anspannung in die Entspannung zu bewegen, finden abrupte Wechsel statt – zum Beispiel plötzliche Reizbarkeit, unerwarteter Rückzug oder das Gefühl, innerlich taub zu sein. Ebenso kann man ein dysreguliertes Nervensystem auch daran erkennen, dass man sich über einen längeren Zeitraum in einem bestimmten Zustand wie innerer Unruhe, Angst oder Leere gefangen fühlt. Unsere Flexibilität – also das Herzstück eines gesunden Nervensystems – geht verloren.

Was nur wenige Menschen über die Auswirkungen einer Dysregulation wissen: für viele Menschen mit dysreguliertem Nervensystem fühlt sich der ventrale Zustand – also Sicherheit, Ruhe und Verbindung – fremd oder sogar bedrohlich an. Für ein langfristig dysreguliertes Nervensystem ist dieser ventrale Zustand nicht mehr wirklich greifbar, daher fühlt es sich darin nicht mehr „Zuhause“. Paradoxerweise kann deshalb Entspannung und Verbindung (zur Umwelt aber auch zu sich selbst) als Gefahr wahrgenommen werden. Als Reaktion darauf sucht sich das Nervensystem auf unbewusster Ebene Reize, um wieder in den gewohnten Zustand der Übererregung zurückzukehren. Das zeigt sich in Konfliktsuche, Selbstsabotage, riskantem Verhalten oder Beziehungen mit Menschen, die uns offensichtlich nicht guttun.

Dieser Mechanismus unseres Nervensystems erklärt, warum es oft so schwer ist, aus seinen gewohnten Mustern auszubrechen – selbst wenn uns bewusst ist, dass sie uns nicht guttun und sich etwas ändern muss. Coaching-Ansätze und Selbsthilfetechniken scheitern häufig, weil sie im falschen Zustand ansetzen: Wenn das Nervensystem in einem überaktiven Sympathikus-Modus steckt, können wir nicht mehr rational denken. Der Körper befindet sich im Alarmzustand – unsere Energie wird quasi nicht zum Reflektieren, sondern zum „Überleben“ benötigt.

Veränderungen, gesunde Entscheidungen und Selbstakzeptanz beginnen daher nicht im Kopf, sondern im Körper. Es geht darum, unser Nervensystem wieder sanft in den Zustand des ventralen Vagus zurückzuführen – also zurück in die Sicherheit, Erdung und Verbindung. Nur von diesem Nervensystemzustand aus können wir wirklich klar denken, bewusst handeln und neue Erfahrungen zulassen.

Dabei geht es gar nicht darum, dauerhaft happy und ausgeglichen zu sein – so spielt das Leben nun mal nicht und das ist auch in Ordnung. Vielmehr soll das Nervensystem lernen, wieder eine ausgeglichene und gesunde Basislinie zu etablieren, von der aus wir flexibel auf Stress reagieren und uns danach wieder beruhigen können.

Diese Arbeit braucht Zeit, Geduld und oft auch eine liebevolle Begleitung. Denn Regulation ist ein körperlicher Lernprozess. Es geht darum, Sicherheit nicht nur zu verstehen – sondern zu fühlen. Mit der Zeit wird das Nervensystem dann wieder beweglich. Es erkennt echte Gefahr und unterscheidet sie von emotionalem oder mentalem Stress. Im Allgemeinen wird unsere Stress-Kapazität wird viel höher. Dinge, die uns früher noch komplett aus der Bahn geworfen hätten, spielen dann nicht mehr eine so tragende Rolle. Wir lernen, uns selbst den Halt und die Sicherheit zu geben, die unser Nervensystem zur Regulation braucht und sind damit weniger von äußerlichen Umständen abhängig. Das bringt Selbstvertrauen und nicht zuletzt auch viel innere Freiheit.

Hey!

In meinem Blog findest du Artikel, anhand derer ich dir Fachwissen, praktische Selbsthilfe-Tools oder auch Reflexionsfragen mitgeben möchte. Natürlich schreibe ich aber auch über meine persönlichen Erfahrungen – menschlich, echt und mit Humor.

Deine Viktoria

Schwungvoller goldener glitzernder Streifen

MEINE ANGEBOTE

NEUESTER BLOGBEITRAG

Nach oben scrollen