Stell dir vor, dass es in dir eine riesige, alte Bibliothek ist – sie ist prall gefüllt mit Aktenordner, die in endlosen Reihen Regal an Regal aneinandergereiht sind. Jeder dieser Aktenordner ist mit einem Erlebnis in deinem Leben verknüpft. Einige davon sind dünn und unauffällig, andere wiederum dick, schwer, vielleicht mit einer besonders auffälligen Aktenfarbe oder mit vielen Lesezeichen markiert. In zweiteren findest du eine umfangreiche Beschreibung der Situationen, die dich im Laufe deines Lebens am meisten geprägt haben – egal ob im positiven oder negativen Sinn. Auch wenn diese Bibliothek nur eine Analogie ist, ist sie nicht nur reine Fantasie, denn auch unser Nervensystem ist wie eine Bibliothek aufgebaut. Eine große unsichtbare Datenbank, die jede Erfahrung speichert, jede Empfindung notiert und jede Situation archiviert. Du kannst dir auch vorstellen, dass diese innere Bibliothek zwei Gänge hat. In Gang eins findest du Aktenordner, die in deinem Bewusstsein liegen und in Gang zwei jene, die im Unterbewusstsein verstaut sind. Wenn wir uns in einer für uns neuen Situation oder einer neuen Umgebung befinden, dann sucht unser innerer Bibliothekar nicht etwas das Gespräch mit unserem Verstand, um gemeinsam zu überlegen, welche Reaktion nun sinnvoll wäre. Er läuft direkt in die Bibliothek, sucht in Hochgeschwindigkeit den passenden Ordner heraus und blättert nach, ob wir diese oder eine ähnliche Situation schon mal hatten. Was hatten wir damals getan? Was hat uns geholfen, zu überleben? Noch bevor dein Verstand begreift, was hier geschieht, hat dein Körper schon längst über eine angemessene Reaktion entschieden: Herzschlag wird beschleunigt, Muskeln angespannt oder aber wir atmen erstmal tief aus und gehen in die Entspannung.
Unser innerer Bibliothekar ist nicht nur Bibliothekar, er ist auch so etwas wie unser eigener Bodyguard, der stets darauf bedacht ist, uns so gut wie möglich vor Gefahren zu schützen. Das Problem ist: er ist etwas eingerostet, bisschen altmodisch und nicht mehr ganz auf dem neuesten Stand. Er unterscheidet nicht zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Daher hält er immer noch Reaktionen für angemessen, die uns vor 20 Jahren Schutz boten. Dabei übersieht er aber, dass die Situation von heute vielleicht nicht 1:1 auf die Situation von damals übertragbar ist, dass wir uns als Mensch weiterentwickelt haben und heute über andere Kapazitäten verfügen, die uns dabei helfen, Herausforderungen zu bewältigen.
Die Auswirkungen unserer gespeicherten Erfahrungen im Alltag
Stell dir vor, du triffst dich seit einigen Wochen mit jemanden. Alles läuft so weit gut, ihr könnt miteinander lachen, habt tiefgründige Gespräche, gegenseitige Anziehung ist vorhanden. Und dann passiert eines Tages etwas, was dein Innerstes in eine starke Unruhe katapultiert: du bekommst seit Stunden keine Antwort mehr auf deine letzte WhatsApp-Nachricht. Eigentlich nicht wirklich etwas Besorgniserregendes, denn rational verstehst du, dass Menschen beschäftigt sind und nicht immer am Handy hängen können. Und dennoch fühlt sich dein Körper anders an: dein Herz schlägt schneller, dein Atem wird flacher, deine Gedanken kreisen nur noch um diese eine Nachricht, dir wird heiß, du kannst fast nicht mehr stillsitzen. Plötzlich sind da diese Fragen, die dir im Kopf umherschwirren: „Habe ich etwas falsch gemacht? Bin ich nicht wichtig genug für diesen Menschen? Warum schwindet das Interesse?“. Zack: Sympathikus-Modus aktiviert, denn dein innerer Bibliothekar ist schon wieder dabei durch die Bibliothek zu stürmen und die für die für diese Situation passenden Akten herauszufischen.
Vielleicht konntest du dich in deiner Kindheit nicht auf die Nähe und Aufmerksamkeit deiner Eltern verlassen. Vielleicht hat sich ein Elternteil aufgrund der Trennung deiner Eltern aus deinem Leben zurückgezogen, sodass dein Nervensystem nun Rückzug mit dem Gefühl des Verlassenwerdens verbindet – mit dem Gefühl, allein zurückgelassen zu werden (was im Kindesalter für unser Nervensystem natürlich eine große Bedrohung darstellt). Dein Körper erkennt dieses bekannte Muster aus der Vergangenheit und schaltet sofort in den sympathisch-aktivierten Modus. Damit werden auch deine erlernten Überlebensstrategien aktiviert (mehr zum Flight-, Fight- und Freeze-Modus in diesem Blogartikel) – im jeweiligen Aktenordner findet unser Bibliothekar jene Reaktion, die uns schon damals im Kindesalter geholfen hat, mit der Situation klarzukommen und sie zu überstehen. Vielleicht wechselst du in den Fight-Modus und möchtest Kontrolle über die Situation erlangen, indem du in den nächsten Stunden zehn weitere WhatsApp-Nachrichten verschickst. Die betroffene Person fühlt sich vielleicht dadurch bedrängt und reagiert genervt. Und so geschieht es, dass in diesem Fall eine Begegnung in der Gegenwart von einer alten Geschichte der Vergangenheit beeinflusst wird.
Unser autonomes Nervensystem ist aufs Überleben, nicht aufs Glücklichsein programmiert
Jetzt könnte man sich fragen: Warum tickt unser innerer Bibliothekar so? Warum fallen wir in eine unangemessene Reaktion, obwohl wir es rational doch eigentlich besser wissen?
Die Gründe hierfür sind sehr simpel. Erstens reagiert unser autonomes Nervensystem mit körperlichen Reaktionen noch lange bevor unser Verstand eine Situation rational überhaupt erfassen kann. Zweitens ist unser autonomes Nervensystem auf unser Überleben, nicht aber auf unser Glück programmiert. Im Zweifelsfall gilt: lieber einmal zu oft in Alarmbereitschaft sein als einmal zu wenig. Evolutionär macht das sehr viel Sinn: wenn unsere Vorfahren ein Knacken im Gebüsch gehört haben, dann ist es besser, sie laufen vor einem möglichen Säbelzahntiger weg als geduldig zu warten, ob es nun wirklich ein Säbelzahntiger oder doch nur der Wind war, der durchs Gebüsch zog.
Heute sind wir diesen unmittelbar lebensbedrohlichen Erfahrungen zumeist nicht mehr ausgeliefert und doch reagiert unser Nervensystem noch so, als würden wir uns irgendwo im Dschungel befinden und ums nackte Überleben kämpfen. Das erklärt auch, warum wir in manchen Situationen (rein objektiv gesehen) überreagieren – warum wir manchmal etwas „überempfindlich“ sind, obwohl wir es doch eigentlich besser wissen. Ein bestimmter Blick kann uns zurück in eine alte Unsicherheit katapultieren, Schweigen kann Erinnerungen (und die entsprechenden körperlichen Reaktionen) an Verlassenheit hochholen, Nähe ein altbekanntes Gefühl des Kontrollverlustes verursachen, etc. Aber auch unsere körperliche Gesundheit trägt die Spuren unserer inneren Bibliothek. Denn ein Nervensystem, welches permanent nur Gefahrenmeldungen abruft, bleibt in dieser Alarmbereitschaft stecken. Dein Körper befindet sich sozusagen im Dauerstress, was sich auf dein Immunsystem, deine Verdauung, deinen Schlaf, das Gefühl von innerer Ruhe, usw. auswirkt. Daher sind viele chronische Beschwerden auf ein Nervensystem zurückzuführen, das sich nie sicher genug fühlt, um endlich zur Ruhe zu kommen (natürlich sollten körperliche Beschwerden dennoch immer ärztlich abgeklärt werden).
Der Shift von ständiger Unruhe hin zum inneren Frieden
Die gute Nachricht ist: die Einträge in unserer inneren Bibliothek sind nicht in Stein gemeißelt. Du kannst dir vorstellen, dass unser Bibliothekar sehr an seinen Aktenordnern und Einträgen hängt und diese nur schweren Herzens aktualisieren möchte – wie schon oben beschrieben, geben sie ihm ein gewisses Maß an Sicherheit. Und dennoch ist es möglich, die Aktenordner zu beschriften, neu zu sortieren oder alte Kapitel mit neuen Erfahrungen zu überschreiben. Wenn wir geduldig und stetig daran arbeiten und nicht gleich versuchen die ganze Bibliothek umzukrempeln, lässt sich in der Regel auch unser innerer Bibliothekar von den Neuerungen überzeugen. Dazu braucht es vor allem eine neu empfundene Sicherheit und Zeit.
Im ersten Schritt ist es daher wichtig, Bewusstsein zu schaffen. Vielleicht kannst du in einigen Situationen schon wahrnehmen, dass dein Bibliothekar gerade wieder einen Aktenordner herausgefischt hat. Wenn dein Körper mal wieder schneller reagiert als dein Verstand, dann mach dir klar: „Das ist gerade ein alter Ordner, der geöffnet wurde. Ich befinde mich aber nicht in der Vergangenheit, sondern im Hier und Jetzt.“
Im zweiten Schritt geht es darum, deinen Körper eine neue Erfahrung von Sicherheit zu schenken. Damals konntest du dich selbst nicht in Sicherheit begeben und hast dir unbewusst eine Strategie zurechtgelegt, die dein Leben „gerettet“ hat. Heute kannst du deinem Körper Sicherheit vermitteln, in dem du dich dir selbst und deinen körperlichen Gefühlen aktiv zuwendest. Du spürst eine innere Angst aufsteigen und hast das Bedürfnis deine Sachen zu packen und wegzurennen? Fühl mal hin, wie sich diese innere Angst anfühlt. Wo in deinem Körper kannst du sie wahrnehmen? Welche Farbe, welche Form hat sie. Schaffst du es, sie für eine kurze Zeit bewusst wahrzunehmen und da sein zu lassen? Schau intuitiv, was sich jetzt gerade in deinem Körper gut anfühlen würde. Vielleicht möchtest du eine Hand auf deinen Brustkorb legen, vielleicht möchtest du dich selbst umarmen, vielleicht willst du dir einfach ein Polster holen und laut hineinschreien. All diese kleinen Gesten mögen dir wie Banalitäten erscheinen aber in deinem Nervensystem sind sie wie kleine neue Einträge in einem alten Ordner, die bezeugen, dass du dir in dieser Situation Hier und Heute selbst Sicherheit vermitteln und für dich da sein konntest. Körperliche Gefühle sind wie Wellen – wenn wir uns ablenken, krachen sie gegen eine Mauer, werden zurückgedrängt und treffen dann zu einem späteren Zeitpunkt erneut auf dieselbe Mauer – nur mit viel mehr Gewalt als zuvor. Wenn wir uns unseren körperlichen Reaktionen aber zuwenden, dann erreicht die Welle zwar eine gewisse Höhe, ebbt dann irgendwann aber auch von selbst wieder ab.
Je öfter wir uns aktiv unseren Gefühlen zuwenden und uns auf diesem Weg Sicherheit vermitteln, desto mehr überschreibt unser Nervensystem alte Muster mit neuen Erfahrungen. Jedes Mal, wenn du dich mit einem alten Trigger konfrontiert fühlst, dich regulierst und spürst, dass dir nichts passiert, wird der alte Eintrag schwächer. So bauen wir uns langsam eine neue Datenbank auf.