Die unsichtbare Macht alter Erfahrungen

Hattest du schon mal das Gefühl, dass sich bestimmte Erfahrungen in deinem Leben immer wieder wiederholen? Natürlich spreche ich hier nicht vom täglichen Zähneputzen, sondern von jenen Situationen, die sich eigentlich nicht gut anfühlen – und dennoch finden wir uns immer wieder erneut auf die ein oder andere Weise mit ihnen konfrontiert. Manche Menschen merken, dass sie in Beziehungen immer wieder ähnliche Partner anziehen, mit denen es dann wieder nicht klappt. Andere stoßen im beruflichen Kontext ständig auf Vorgesetzte oder KollegInnen, die alte Muster antriggern. Wiederum andere arbeiten ständig auf ein Ziel hin nur um es dann doch wieder nicht zu erreichen. In solchen Momenten fragen wir uns dann „Warum passiert mir das schon wieder? Habe ich denn wirklich nichts dazugelernt? Ich weiß es doch eigentlich besser!“

Und ja, vermutlich weißt du es wirklich besser, denn mit deinem Verstand hast du vielleicht schon begriffen, welche Muster sich hier wieder abspielen. Aber die Antwort, weshalb du dich in derselben oder einer ganz ähnlichen Situation wiederfindest, liegt viel tiefer, als wir mit dem Verstand begreifen können. Denn es ist nicht unser Verstand, sondern unser Nervensystem, das uns in solchen Momenten lenkt – und zwar leider nicht immer in die Richtung, die uns glücklich macht, sondern in jene, die uns vertraut ist.

Vertrautheit statt Veränderung

Unser Nervensystem ist ein hochintelligenter körperlicher Mechanismus, welcher sich vor allem auf eine Sache konzentriert: unser Überleben. Und wenn es ums Überleben geht, stellt sich unser Nervensystem vor allem eine Frage: kennen wir diese Situation/ haben wir sowas schon einmal erlebt und wenn ja, wie haben wir unser Überleben sichergestellt (mehr zur Speicherung von Erfahrungen in unserem Nervensystem findest du in meinem Blogartikel Unser autonomes Nervensystem als innere Bibliothek)? Denn alles, was wir schon einmal durchlebt haben – ganz egal, wie schmerzhaft die Erfahrung für uns war – ist für unser Nervensystem ein Hinweis darauf, dass wir die richtige Reaktion gesetzt haben (schließlich haben wir ja überlebt, oder?!). Das Bekannte wird also mit Sicherheit assoziiert, das Unbekannte hingegen wird automatisch mit Gefahr in Verbindung gebracht.

Kurz gesagt: unser Nervensystem wählt lieber den altbekannten und vertrauten Schmerz, als dass es sich in ein neues Abenteuer mit ungewissem Ausgang stürzt. Natürlich ist es nicht so, dass wir uns bewusst für eine bereits gemachte und schmerzhafte Erfahrung entscheiden oder gar das Leid aufsuchen. Wir werden in solchen Momenten mit der Autonomie unseres Nervensystems konfrontiert und für dieses fühlt sich das Altbekannte einfach sicherer an, auch wenn eine neue Erfahrung potenziell gesunder und erfüllender wäre.

So ein Mechanismus kann sich zum Beispiel deutlich in zwischenmenschlichen Beziehungen zeigen. Nehmen wir das Beispiel einer Person, deren Vater in der frühen Kindheit gegangen ist weil sich die Eltern getrennt haben. Er war nur unregelmäßig präsent, mal war er hier und dann gab es wieder für einen längeren Zeitraum wenig Kontakt. Das Nervensystem des Kindes hat in dieser Zeit gelernt: Nähe ist möglich, aber nicht verlässlich. Liebe bedeutet zu warten, zu hoffen aber immer damit zu rechnen, am Ende vielleicht doch enttäuscht zu werden. Jahre später begegnet diese Person im Erwachsenenleben einem Partner, der emotional nicht verfügbar ist. Während der Verstand ganz klar sieht, dass diese Art von Beziehung nicht gesund ist, reagiert der Körper mit Vertrautheit. Es fühlt sich an, als wäre diese Art der Beziehung „richtig“, weil sie so ähnlich ist wie das, was das Nervensystem von klein auf gelernt hat.

Ein anderes Beispiel kann man aus dem Berufsleben ziehen: Jemand wächst vielleicht mit einer Mutter auf, die sehr kontrollierend war und hohe Erwartungen an die Leistung des Kindes stellte. Das Nervensystem verinnerlicht die Erfahrung, dass es Anerkennung und Liebe nur dann bekommt, wenn es auch entsprechend eine gute Leistung erbringt. Seine eigenen Bedürfnisse waren zweitrangig. Später im Job landet diese Person immer wieder bei Vorgesetzten, die ähnlich fordernd sind. Auch hier ist es nicht die bewusste Entscheidung, sondern unser innerer Bibliothekar, der durch die Bibliothek unserer bereits gemachten Erfahrungen huscht und jenen Ordner herauszieht, in dem sich unsere gespeicherte Erfahrung zu Liebe und Leistung befindet. Obwohl es anstrengend und ungesund ist, fühlt es sich paradoxerweise sicherer an, als sich auf ein Umfeld einzulassen, in dem Wertschätzung und Selbstbestimmung herrschen.

Natürlich – und an dieser Stelle: DANKE, liebes Universum – schenkt uns das Leben immer wieder Situationen und Menschen, mit denen wir korrigierende Erfahrungen machen können. Und genau in diesen Situationen sollten wir mit einer großen Portion an Selbstakzeptanz und Mitgefühl unser eigenes Verhalten unter die Lupe nehmen, um etwaige Selbstmanipulationsversuch schnell zu entlarven. Denn unser Nervensystem möchte Sicherheit, also reimen wir uns unbewusst eine Geschichte zusammen, die unsere alten Glaubenssätze schützt – selbst wenn die äußere Situation inzwischen stabil und verlässlich ist. Wenn wir zum Beispiel innerlich davon überzeugt sind, dass uns unser neuer Partner sowieso früher oder später verlassen wird, dann suchen und interpretieren wir in seinem Verhalten ständig Hinweise auf eine mögliche Ablehnung. Wir schüren Misstrauen, fordern mehr Bestätigung und ziehen uns zurück oder reagieren gereizt und vorwurfsvoll. Damit schaffen wir über unsere eigenen Verhaltensweisen Distanz zu unserem Partner und verursachen oft genau das, wovor wir Angst hatten. Aus einer in der Vergangenheit gemachten Erfahrung wird ein innerer Glaubenssatz und aus diesem entspringt ein äußeres Muster: unsere Angst formt unser Verhalten, unser Verhalten formt die Reaktion unseres Gegenübers und Zack, wird unsere anfängliche Angst scheinbar bestätigt. Wir haben das sowieso schon kommen gesehen, oder?!

Der Weg in die Veränderung

Die gute Nachricht: Unser Nervensystem ist anpassungsfähig. Es kann lernen, neue Erfahrungen als sicher zu empfinden. Doch diese Veränderung wird niemals alleine durch unser Wissen bzw. über unseren Verstand vollzogen. Es wäre schön, wenn wir uns in solchen Situationen einfach sagen könnten: Ich weiß, dass mir das nicht guttut und deshalb wähle ich heute anders – nur leider funktioniert das so mit tiefgreifenden inneren Mustern nicht. Die Reaktionszeit unseres Nervensystems ist viel schneller als die unseres Verstandes (mehr dazu findest du in meinem Blogartikel Kommandozentrale Autonomes Nervensystem), daher überspielt unser autonomes Nervensystem in Trigger-Momenten fast immer unseren Verstand. Wahrhaftige Veränderung braucht neue Erfahrungen, die Schritt für Schritt vermitteln: wir sind sicher – auch im Unbekannten.

Jede Art von Veränderung beginnt immer mit dem Bewusstsein, dass man gerade ein Muster wiederholt. Immer dann, wenn wir uns sagen „Aha, ich erkenne diese Art von Situation/Reaktion“ und uns fragen, was sich daran vertraut anfühlt, bringen wir einen kleinen Stein ins Rollen. Reines Wissen allein reicht jedoch nicht – das Nervensystem braucht auch die körperliche Erfahrung von Sicherheit. Sanfte somatische Praktiken und die bewusste Regulation des Nervensystems können dabei helfen, neue Bahnen zu legen. Wichtig ist, unser Nervensystem nicht zu überfordern und neue Erfahrungen in kleinen Dosen einzuladen, die verarbeitbar sind und unsere Komfortzone nicht überschreiten. Echte Veränderung passiert nämlich immer am sweet spot – an jenem Punkt, an dem wir schon ziemlich an der Grenze unserer Komfortzone ankommen, uns aber dennoch sicher genug fühlen, unsere Komfortzone ein bisschen zu stretchen.

Vom Überleben ins Leben

Am Ende geht es bei der Arbeit mit deinem Nervensystem nicht darum, vergangene Erfahrungen auszulöschen. Sie gehören zu unserer Geschichte und sind damit ein wichtiger Teil von uns. Aber sie müssen nicht länger unsere Gegenwart bestimmen. Indem wir unserem Nervensystem neue, sichere Erfahrungen schenken, öffnen wir nach und nach die Türe zur eigenen Wahlfreiheit. Wir müssen uns nicht länger an alten Geschichten festklammern oder automatisch in alte Schuhe schlüpfen, aus denen wir schon längst rausgewachsen sind. Wir können bewusst neue Wege gehen.

So verwandelt sich das Leben langsam, Stück für Stück, von einem Wiederholungsfilm alter Geschichten in ein offenes Buch, in dem wir neue Kapitel schreiben können – Kapitel, die nicht von der Angst vor dem Unbekannten dominiert werden, sondern von der Freiheit erzählen, sich für neue Abenteuer und Erfahrungen zu öffnen um herauszufinden, was alles möglich ist.

Hey!

In meinem Blog findest du Artikel, anhand derer ich dir Fachwissen, praktische Selbsthilfe-Tools oder auch Reflexionsfragen mitgeben möchte. Natürlich schreibe ich aber auch über meine persönlichen Erfahrungen – menschlich, echt und mit Humor.

Deine Viktoria

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